„EIN SAMENKORN, DAS LETZTE“

LEIPZIGER  VOLKSZEITUNG,  7.03.2007

„EIN SAMENKORN, DAS LETZTE“
Das Berliner „Teatr Studio“ zeigt Różewiczs Stück „Eine alte Frau brütet“ in Leipzigs Schauspiel als Endzeit – Groteske“  
Hendrik Pupat

Die Bahnhofsuhr über die Bühne zeigt weder fünf vor zwölf noch sonst irgendetwas, sie hat längst keine Zeiger mehr. Das Cafe darunter hinterlässt einen ähnlich desolaten Eindruck. Die Tische scheinen schmierig und abgenutzt. Die Fenster mit raschen Pinselstrichen gegen Durchblick geschützt, hängen krumm und schief an der Wand und in den Raum.
Rechts  hinten lümmeln sich zwei Kellner in klassischer, schwarz-weißer Montur. Gelangweilt, zeitungslesend. Links auf einer Schaukel sitzt, nein, kein Mädchen, eher ein Großmütterchen. Die Szene ist schwach beleuchtet, gelblich. Wie aus weiter Ferne erklingt verträumter Gesang.
So beginnt diese Inszenierung von Tadeusz Różewiczs Theaterstück „Eine alte Frau brütet“, eine Endzeit – Groteske. Das deutsch-polnische Teatr Studio mit Bühne am Salzufer in Berlin setzt auf Atmosphäre. Es zielt auf die Sinne des Publikums. Das ist von Beginn an klar beim Gastspiel am Montagabend in der Spielstätte hinterm Eisernen im Schauspiel Leipzig.
Dekonstruktion, distanzierte Analyse, unterkühltes Agieren ist hier kaum oder gar nicht zu erwarten. Dafür ein Vollbluttheater, etwas aufdringlich bisweilen, aber nie wirklich unangenehm. Ähnliches wird in Leipzig, sonst nur von der Euro-Scene geboten. Diesmal half das Polnische Institut bei der Realisierung.
Die alte Frau mag es süß, doch die Zeiten sind so bitter wie der Kaffeesatz, der ihr gereicht wird. Und klebt da am Glas vielleicht sogar der Lippenstift des „schönen Mädchens“, das in dieser Inszenierung einer leichtbekleideten Professionellen zum Verwechseln ähnlich sieht? Man verkauft sich, verharrt und führt Krieg, den dritten. Dermaßen zugedreckt ist die Welt, dass Fenster tunlichst geschlossen bleiben sollten – sonst strömt Müll herein. An den einst schönen Ausblick scheint sich nur die alte Frau noch zu erinnern. Und nur ein Blinder ist  weitsichtig genug, ein Samenkorn, das letzte, zu pflanzen.
Die alte Frau brütet über den Verlust der alten Welt, der alten Werte. Die Lage sei ernst? Ach, das hat sie schon zu oft gehört. Nun will sie gebären, die moderne Wissenschaft hilft ihr dabei. Drei Töchter, ein Sohn. Letzteren verliert sie an den Krieg. Lässt sich die Handlung derart zusammenfassen? Nur bedingt.
  Różewicz schrieb das Avantgarde-Theaterstück Ende der 1960er  Jahre unter dem Einfluss der Studentenbewegung und des Vietnamkriegs. Er liefert Bilder, Stimmungen, absurde Dialoge, doch keine lineare Erzählung. Wer die alte Frau ist muss (oder auch darf)  der Zuschauer allein für sich selbst klären.
Die polnische Schauspielerin Janina Szarek, die auch Regie führte, gibt sie jedenfalls mit enormem Furor. Auch die weiteren Darsteller geizen nicht mit mimischer Gewalt. Das bereitet durchaus Freude. Doch das Erstaunlichste bleibt die Aktualität dieses vermeintlich überholtes Stücks, das in Leipzig übrigens schon einmal zu sehen war, 1987 mit der legendären Marylu Poolmann in der Titelrolle, bei der Einweihung der neuen Theater-Spielstätte Neue Szene.