Im Mittelpunkt steht der Mensch

THEATER der ZEIT – April 2005

Im Mittelpunkt steht der Mensch
Die deutsch–polnische Studiobühne TEATR Studio in Berlin     
Bernhard Hartmann

Leicht zu finden ist es nicht, das Teatr Studio in Berlin-Charlottenburg. Man muss schon wissen, wonach man sucht, um auf dem Gelände einer ehemaligen Textilfabrik zwischen Paketdienst, Baubüro und Fitness-Studio den richtigen Eingang zu entdecken. Die Parallele zur polnischen Theatertradition des 20 Jahrhunderts, deren Popularisierung und Fortschreibung sich diese deutsch-polnische Studiobühne auf die Fahnen geschrieben hat, drängt sich gerade zu auf. Diese Tradition hat zwar große Künstler wie Tadeusz Kantor, Jerzy Grotowski oder Jozef Szajna und Dramatiker wie Stanislaw Ignacy Witkiewicz, Witold Gombrowicz, Tadeusz Różewicz oder Slawomir Mrozek hervorgebracht, außerhalb Polens führt sie aber auch nach dem Fall der Mauer ein Schattendasein und begeistert allenfalls Kenner. In Polen erklärt man Sachverhalte wie diesen gerne achselzuckend damit, dass die eigene Kultur wegen ihrer Besonderheit  für Außenstehende eben nur schwer oder gar nicht zugänglich sei.

Janina Szarek, die gemeinsam mit dem Literaten und Kulturwissenschaftler Olav Münzberg unter dem Dach des Trägervereins Internationale Theaterwerkstatt (ITW) Berlin das Teatr Studio und die TRANSform Schauspielschule leitet, teilt diese resignative Auffassung nicht. Die Polin studierte in Krakau Schauspiel, war dort Mitglied des alternativen, international angesehenen Teatr STU und arbeitete mit polnischen Regiegrößen wie Jerzy Grzegorzewski, Henryk Tomaszewski und Krystian Lupa zusammen, bevor sie 1981 in Westberlin von der Ausrufung des Kriegsrechts in ihrer Heimat überrascht wurde – und in Deutschland blieb. Selbstbewusst verweist sie vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen als Schauspielerin an Frank Castorfs Volksbühne und als Dozentin unter anderem an der Staatlichen Schauspielschule „Ernst Busch“ auf die Stärken polnischer Theaterarbeit: Die Verbindung von Sinnlichkeit, Emotionalität und Intellektualität in der Arbeit an der Aufführung als lebendiger künstlerischer Form und die zentrale Stellung des Menschen als Dramatis Persona wie auch als Schauspieler. Momente, sagt sie, die das theorielastige und verkopfte deutsche Theater oft vermissen lasse.

Die Idee, ein Theater zu gründen, das an die polnische Theaterpraxis anknüpft, lag daher nahe. Realisierbar wurde sie durch die Gründung der privaten TRANSform Schauspielschule. Deren Erlöse finanzieren Unterhalt und Betrieb der Bühne, fortgeschrittene Studierende der seit 2002 arbeitenden Schule bilden das Ensemble des Teatr Studio  – und profitieren  ihrerseits von frühen, professionellen Bühnenerfahrungen. Der Nachweis der Praxistauglichkeit dieses Konzeptes lieferte im Februar 2004 die Eröffnung des offiziellen Spielbetriebs mit einer gelungenen Inszenierung von Tadeusz Różewiczs „Weißer Ehe“, die auch den Autor nach Berlin lockte. Zusammen mit Andre Putzmann (Bühnenbild), Dzidek Starczynowski (Choreografie) und dem Komponisten Michal Talma-Sutt schuf die Regisseurin Szarek einen Rahmen, der dem jungen Ensemble Sicherheit gab und Spielraum für die Ausgestaltung der Figuren ließ. Nahe an Różewiczs Text  entstand eine suggestive Bilderfolge über den Versuch einer jungen Frau, aus biologisch und  gesellschaftlich determinierten Rollenmustern auszubrechen. Allerdings legte das Stück mit seiner bildhaften Struktur eine solche Inszenierungsvariante auch nahe und war somit eine dankbare Vorlage.

Ganz anders die sperrige, mit philosophischen Thesen und kruder Komik überfrachtete Dramatik Stanislaw Ignacy Witkiewiczs, die für jedes Theater eine Herausforderung darstellt. Mit Witkiewiczs  „Narr und Nonne“ hatte sich Janina Szarek, die 1977 in Krystian Lupas berühmt gewordener Inszenierung des Stücks für das polnische Fernsehtheater die weibliche Hauptrolle spielte, also keine leichte Aufgabe ausgesucht. Zu sehen ist hier eine leere Bühne, im Hintergrund ein Gitter, eine Tür, ein Fenster, weiter vorn ein Bett. Wie von Geisterhand öffnet sich die Tür, und die Figuren des Stückes drängen herein. Ein junger Mann wird erst gefeiert, dann in eine Zwangsjacke gesteckt und sich selbst überlassen. Kurz darauf wird eine junge Frau im Ordenshabit durch die Tür gestoßen. Unsicher schaut sie sich um, jede ihrer Bewegungen begleitet vom Zischen und Stöhnen des Mannes. Als er zu sprechen beginnt, windet die Frau sich unter seinen Worten. Schon nach wenigen Augenblicken wird die Kraft der gegenseitigen Anziehung und Beeinflussung zwischen dem Dichter Mieczyslaw Walpurg und der Ordensschwester Anna, die das 1923 geschriebene Stück vor allem behauptet, körperlich spürbar und damit glaubhaft. Die beiden sind Sand im Getriebe einer entindividualisierten Gesellschaft, deren repressive Ordnungsmechanismen die Inszenierung in präzise choreografierte Auftritte von Psychiatern, Pflegern und Ordensoberin übersetzt. Die surreale Atmosphäre des Texts, die an Alfred Jarry erinnernde Mixtur aus Wahnsinn, sexuellem Begehren, Gewalt und grotesker Komik, die Witkiewicz zu einem Vorläufer des absurden Theaters machten, gehen dabei keineswegs verloren. Im Gegenteil. Immer wieder verselbständigen sich die Ausdrucksmittel, wird die Sprache zum Gestammel, gleiten Geschehen und Dialoge ins Aberwitzige ab.

Die Konzentration auf den Kampf des Individuums gegen gesellschaftliche Zwänge erweist sich hier stärker als in der „Weißen Ehe“ als probates Mittel, einen komplexen Text auf der Bühne zum Leben zu erwecken und für die Gegenwart zu öffnen. Angesichts dessen verwundert es nicht, dass als nächstes Gombrowicz, der große Dramatiker des Ichs, inszeniert werden soll. Allerdings will das Teatr Studio sein Repertoire nicht ausschließlich mit polnischer Dramatik bestücken, parallel zu „Narr und Nonne“ wurde „Macbeth“ geprobt. Auf die weitere Entwicklung der deutsch-polnischen Studiobühne darf man also gespannt sein. Im besten Fall könnte das Teatr Studio für die nächsten Jahre das werden, was Henryk Baranowskis in Berlin-Kreuzberg ansässiges Transformtheater für die 80er- und Andrej Worons Teatr Kreatur für die 90er war: eine Heimstatt polnischer Theaterkunst und eine Bereicherung der Berliner Theaterlandschaft. Die Chancen dafür stehen gut. Das Theater genießt  die Sympathie der Berliner Kulturpolitik und hat sich bereits einen ansehnlichen  Publikumsstamm erspielt. Bestehende Kooperationen mit der angesehenen Akademia Teatralna in Warschau und mit Anna Augustynowiczs Stettiner Teatr Wspołczesny, derzeit eine der wichtigsten Bühnen Polens, sollen ausgebaut werden.

Vor allem aber hat das Teatr Studio  mit dem bisher gezeigten, durch die Verbindung von Texttreue und atmosphärischer Dichte geprägten Inszenierungsstil künstlerisch etwas zu bieten. Und, indem sie den Traum von einem menschlichen Leben gegen alle äußeren Zwänge wach hält, auch eine Utopie, ohne die Kunst nicht auskommt.