„SEHNSUCHT NACH DER ALTEN WELT“

MÄRKISCHEODREZEITUNG,  Frankfurt/Oder, 3.02.2007

„SEHNSUCHT  NACH  DER   ALTEN  WELT“  
Różewicz  „Die alte Frau brütet“ im Frankfurter Kleist-Forum
Daniel Mätzschker

Frankfurt (Oder). Die Welt zerbrach für Tadeusz Różewicz, als er achtzehn Jahre alt war. Als der Krieg sechs Jahre später vorbei war, dauerte es noch zwei Jahre, bis 1947 sein erster Gedichtband „Unruhe“ erschien. Darin heißt es: „Vierundzwanzig bin ich / gerettet /  auf dem weg zum schlachten“. Różewicz war dabei, die Scherben von Moral und Lebenssinn neu zu ordnen . Jegliche Ausschmückung der Sprache kam in der neuen Ordnung nicht vor. Die neue Welt war asketisch, zerstört und fremd. Das beschädigte Lebensgefühl als Folge des Krieges, wurde zum Lebensthema des Dichters.
      „Die alte Frau brütet“, 1969 in Breslau uraufgeführt, drückt diese Sehnsucht  nach der alten Welt aus, nach einer Welt, in der Ideale noch etwas Wert waren und die Moral nicht auf der Müllkippe verklappt wurde. Das deutsch-polnische „Teatr Studio“ bringt diese apokalyptische Satire in einer Inszenierung von Janina Szarek zurück nach Berlin. Zuletzt war es 1991 am Maxim Gorki Theater zu sehen. Heute spielt das „Teatr Studio“ im Frankfurter Kleist-Forum.
         Der erste Akt zeigt ein großes Bahnhofscafe. Mittendrin die alte Frau (Regisseurin Janina Szarek selbst), die trotz Wassermangel auf einem sauberen Glas mit Kaffee besteht und mit viel, viel Zucker ihr Dasein versüßen will. Der Blick nach außen ist versperrt: „ Die Gäste ertragen nicht den Anblick“. Das einstmals prächtige Panorama ist mit Müll bedeckt, der bei Öffnen der Fenster auch gleich hereinquillt. Die zivilisatorische Katastrophe ist eingetreten. Die alte Frau will die alte Welt dennoch retten. Neues Leben will sie spenden, indem sie einen Sohn gebärt: „In dieser Situation bewundere ich Ihren Mut“, ruft ihr einer der beiden Kellner (Timothy Nicolai und Axel Hartwig) daraufhin zu. Ein Unding ist der Versuch  der alten Frau allemal: Seit 50 Jahren ist sie unfruchtbar, woran auch ein herbeigeholter Arzt (Christian Rodenberg) nichts ändern kann.
         Zweiter Akt: Die Bühne komplett von Müll bedeckt, mittendrin rekeln und amüsieren sich drei Mädchen, Sie liegen ausgestreckt auf ihren Stranddecken. Im Hintergrund Schützengräben und Schlamm, aus dem Menschenarme hervorragen. Die Situation ist absurd. Der Abgrund liegt neben dem Vergnügen. Ein Blinder (Fares Bouattoura) tritt auf, der seine Hoffnung in eine selbstgepflanzte Lärche setzt: „Jetzt können wir bereits in seinem Schatten ausruhen .“Seine Sehnsucht nach reinem Quellwasser macht die alte Frau sofort zunichte – nur Kloaken sind der Menschheit geblieben.
       Die neue Ordnung entpuppt sich in dem Theaterstück als kalt und öde. Der Fortschritt, der die Menschen einst befreien sollte, offenbart seine Unmenschlichkeiten. Die alte Frau braucht dagegen nicht den Kosmos oder Amerika zu entdecken, wie es in der „ Erzählung von alten Frauen“ bei Różewicz heißt : „die alten frauen stehen morgens auf / kaufen fleisch obst brot / putzen kochen / stehen auf der straße mit verschränkten  / händen schweigen“. Dem schöpferischen Chaos stellen sie einfachste Dinge gegenüber.